Die erste große Liebe

Nein, keine Sorge – ich werde hier keine intimen Details aus meinem Liebesleben preisgeben. Wer darauf hofft (war der Titel etwa irreführend???), wird leider enttäuscht werden. Ein bisschen persönlich wird es trotzdem werden – denn es geht um meine erste große Musik-Liebe. Eine Band, die ich entdeckt habe, als ich vielleicht so zwölf Jahre alt war, und die mich seitdem und wohl (hoffentlich) auch noch für den Rest meines Lebens begleitet. Es geht um die Beatles.

Ich bin und war noch nie up-to-date mit den aktuellen Trends und Moden. In dem Alter, in dem andere Kinder bzw. Jugendliche wohl anfangen, sich für Musik zu interessieren, Radio zu hören, die aktuellen Charts-Künstler zu entdecken, habe ich eine CD im Regal meiner Eltern gefunden, mit rotem Cover, merkwürdigen Bildern von vier Männern drauf, und 27 Titeln, die ab dem Zeitpunkt bei mir rauf und und runter liefen. „One“ war quasi meine Einstiegsdroge. Gut geeignet für den Einstieg – 27 Nummer 1-Singles müssen ja quasi das Beste vom Besten sein. Ich weiß, dass Bruder 1 und ich die CD zuvor schon einmal zusammen entdeckt und eine Zeitlang gehört hatten, dann war das Interesse aber erst einmal wieder abgeflacht. Aber irgendwann so zu Beginn meiner Teenie-Zeit kam es bei mir wieder – und dann so richtig.

Wenn mich etwas interessiert, mir etwas gefällt, dann nicht nur ein bisschen, oder so halb, sondern ganz. Komplett. Dann reicht es mir nicht, ein bisschen Musik zu hören. Dann muss ich alle Musik hören. Alles lesen. Alles wissen. Es fing an mit den CDs, die in der Stadtbücherei zu haben waren. Nach und nach, dank Geburtstagen, Weihnachten und Taschengeld, hatte ich alle Studio-Alben, 13 an der Zahl, in meinem Besitz. Und ich habe sie zelebriert: Jede neue CD habe ich stundenlang am Stück gehört, vor dem CD-Player auf dem Boden gesessen, versucht zu erraten, wer da grade singt (ich wollte ja Experte werden, dazu gehörte meiner Meinung nach auch, die Stimmen der Vier zu erkennen bzw. zu unterscheiden), die Texte, so gut ich sie verstand, mitgeschrieben, anschließend im Internet abgeglichen, richtig aufgeschrieben und mit den Texten vor der Nase mitgesungen. Das führt dazu, dass ich auch jetzt noch, wo ich schon lange nicht mehr so intensiv und regelmäßig höre (weil mein Musikgeschmack doch etwas diverser geworden ist), bei jedem einzelnen Song Wort für Wort mitsingen kann.

Ich habe die Wikipedia-Einträge zu den Beatles, zu John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr gelesen, bin irgendwann zu Büchern übergegangen: Hertsgaard: Die Beatles. Die Geschichte ihrer Musik; die Anthology, Cynthia Lennons Buch, Philip Normans Biografie von John Lennon, Mark Lewisohn, Ian MacDonald; weil ich eben neben dem Entdecken der Musik gleichzeitig auch Interesse an den Personen dahinter entwickelt habe, an dem Entstehungsprozess der Musik und allem, was damit zusammen hängt, an der Geschichte der Band, an der Dynamik und den Beziehungen zwischen den Vieren.  Ich habe die Filme gesehen, einige Dokumentationen, die 10 Anthology-DVDs geschaut, ich habe noch immer einen riesigen Ordner auf meinem Computer mit aufgeschriebenen Songtexten, mit kopierten und selbst erstellten Listen aller Art zu Songs, Komponisten, Interpreten, Sängern, Aufnahmezeitpunkt, mit Infos, die ich irgendwo gefunden habe und aufbewahren wollte. Von dem Hefter mit den handgeschriebenen Texten habe ich mich immerhin irgendwann getrennt.

Als ich das offizielle Material ausreichend „verarbeitet“ hatte, habe ich angefangen, mich mit frühen Takes und Outtakes zu beschäftigen – je mehr Abbrüche in der Aufnahme, je mehr Gerede und Geblödel darin, desto interessanter finde ich das. Aber auch die Enstehung und Entwicklung von Songs im Rahmen des Aufnahmeprozesses ist super spannend: Einiges an Material ist diesbezüglich ja auch offiziell veröffentlicht worden und YouTube ist auch eine super Quelle (und sollte ich womöglich B******s in meinem Regal stehen haben, würde ich das an dieser Stelle natürlich nicht verraten). Das „Raten, wer da gerade singt“ wurde irgendwann ersetzt durch „Harmonien erkennen und die verschiedenen Stimmen mitsingen können“ – daran scheitere ich noch immer regelmäßig und in den allermeisten Fällen – zum Glück gibt es ja auch da YouTube-Videos von Leuten, die einem die Harmonien auseinander pflücken und jede kleine Abweichung erhören können.

Überhaupt, die Harmonien… Man kann ja vieles sagen über die Songs der Beatles, es gibt so vieles, was auffällig an ihnen ist oder was besonders in Erinnerung bleibt. Egal, ob es die Tatsache ist, wie (musikalisch betrachtet) einfach gestrickt viele ihrer Stücke sind, die oft nur mit wenigen Akkorden auskommen, ob es die teilweise eher einfachen, später aber oft auch sehr tiefschürfenden Texte sind, ob es die Energie ist, die Freude an der Musik, die förmlich aus den Songs strömt – es ist alles richtig und bemerkenswert und alles Teil der Faszination. Aber die Harmonien, zwei-, drei- oder mehrstimmig, sind vielleicht das Beste und Schönste, was die Beatles produziert und hinterlassen haben. Häufig genug habe ich Mühe, Johns und Pauls Stimmen zu unterscheiden, weil sie, obwohl an und für sich sehr unterschiedlich, zusammen fast Eins werden. Nur wenige Songs kommen ohne große Harmonien aus und in Liedern wie „This Boy“ oder „If I Fell“ weiß man gar nicht, wie man sie eigentlich angemessen beschreiben soll.

Ich habe quasi mit den Beatles Englisch gelernt, wohl weil ich die Texte aller Lieder so oft geschrieben, gelesen und gesungen habe. Es gibt Wörter, Ausdrücke und Phrasen, bei denen ich sofort einen Titel oder eine Songzeile im Kopf habe, z.B.  to toe the line („Run For Your Life“), Royal Albert Hall („Now they know how many holes it takes to fill the Albert Hall“ – „A Day In The Life“) ought („Ticket To Ride“). Vielleicht verdanke ich auch den Beatles meine Vorliebe zu nordenglischen Akzenten und Dialekten und die Tatsache, dass ich nur selten Probleme damit habe, diese zu verstehen (das kam mir im Anglistik-Studium doch tatsächlich ab und an zugute).

Ich habe, von den Beatles ausgehend, noch so viel mehr neue (uralte) Musik kennengelernt: Natürlich das, was die Vier nach 1970 getrennt voneinander in ihren Solo-Karrieren produzierten (bzw. heute noch produzieren), viel Musik und viele Künstler aus den 50er- und frühen 60er-Jahren, deren Stücke die Beatles gecovert haben oder von denen sie inspiriert wurden: Elvis, Chuck Berry, Little Richard, Ray Charles, Carl Perkins und überhaupt Rock’n’Roll; Musiker mit Berührungspunkten zu den Beatles wie Eric Clapton, Bob Dylan (der die Beatles mit Cannabis „bekannt machte“), Elton John, Joe Cocker; durch Kollaborationen und gemeinsame Aufnahmen aus der Solo-Zeit Musiker wie Michael Jackson oder Stevie Wonder; Jeff Lynne (und ELO), Tom Petty und Roy Orbison dank George Harrison’s Traveling Wilburys und so viele mehr. Erst so gegen Ende meiner Schulzeit, als  die „schlimmste“ Beatles-Phase oder die größte Entdeckungs-Phase ihrem Ende zuging, habe ich angefangen, zumindest ein klein wenig von dem mitzukriegen, was gerade aktuell war. Sprich, aus meiner Teenie-Zeit kenne ich nur wenig von dem, was damals angesagt war oder was alle anderen kannten und hörten.

Ich war also nicht wirklich so ein normaler Teenie – ich hatte keine Bravo-Poster an den Wänden, sondern vier DIN A4 Fotos von Männern, die altersmäßig zu dem Zeitpunkt schon fast meine Großväter hätten sein können. Ich kannte nicht nur Lied-Texte auswendig, sondern auch Zitate, Geburtstage, Todestage und Aufnahmedaten. Ich hatte diesen Schatz von hunderten von Songs, die es alle schon gab, wo für jede Stimmung ein passendes Lied dabei war, und nur wenige davon mochte bzw. mag ich nicht. Ein Lieblingslied kann ich zum Beispiel gar nicht benennen, weil ich bis auf eine Handvoll Songs („Ob-La-Di Ob-La-Da“ oder „Wild Honey Pie“ bräuchte ich tatsächlich wirklich nicht) alle gerne höre. Einige wenige singe ich vielleicht mit etwas weniger Inbrunst mit als andere (interessanterweile häufig die, die sonst wirklich alle kennen und lieben – „Yesterday“) und die mir liebsten Songs sind interessanterweie oft die, die irgendwo in der Mitte einer Albumseite versteckt offensichtlich nicht als etwas Besonderes angesehen wurden (ich liebe beispielsweise „I’ll Cry Instead“, „You Can’t Do That“ und „I’ll Be Back“, die für mich auch irgendwie alle drei zusammengehören).

Ganz aktuell gilt mein Interesse besonders den Konzerten. Offiziell veröffentlichtes Material gibt es da nicht ganz so viel – es war damals ja auch durchaus noch etwas schwieriger, so ein Konzert mitzuschneiden – aber auch hier hilft YouTube gerne. Vieles von dem, was man dort findet, kann man sich allerdings fast nicht anhören, weil das Geschrei der Zuschauer-Mädchen alles übertönt und nach einer Weile sehr nervig wird. Wie John Lennon im obigen Video sagt: „Tonight was ridiculous. There was 8000 people all shouting at once and we were trying to shout louder than them with microphones and we still couldn’t beat ‚em.“ Diese Bedingungen und die damaligen technischen Möglichkeiten bedeuteten, dass die Musiker auf der Bühne bei dem Lärm und Geschrei um sie herum sich selbst kaum noch hörten. Wie sie dabei noch so gute Musik auf die Bühne bringen , im Takt und „in tune“ bleiben konnten, zeigt wohl nur, was für gute Musiker sie waren und wie gut sie sich kannten und (aufeinander) eingespielt waren. Mein ‚liebstes‘ Konzert ist übrigens das Shea Stadium – das erste große Stadion-Konzert – und mein ‚liebstes‘ Stück ist „I’m Down“ – warum? Darum:

Wie gesagt, mein Musikgeschmack mittlerweile vielfältiger und so höre ich schon lange nicht mehr jeden Tag, auch nicht mehr jede Woche Beatles – manchmal vergehen auch Monate , ohne dass ich bewusst einen Beatles-Song höre. Aber wenn ich es tue, ist es immer noch genauso gut, bin ich jedes Mal wieder erstaunt und bewundernd ob der Musik, der Harmonien, der Texte. Jedes Mal wieder entdecke ich etwas Neues, jedes Mal wieder macht es mich glücklich – keine andere Musik, kein anderer Künstler schafft das auf genau diese Art und Weise.

Paul McCartneys Antwort auf die Frage: „What place will The Beatles have in the history of Western culture?“ in einem Interview in den 60er-Jahren war: „You must be kidding me with that question. It’s not culture. It’s a good laugh.“ – Ein Witz also, der nun schon seit über 50 Jahren anhält.
Sind die Beatles für immer? George Martin, ihr Produzent, der als einer der letzten Kontakte, die ihnen noch blieben, ihnen einen Plattenvertrag gab: „The amazing thing about The Beatles, the songs that they wrote, is that they are timeless and that, as each generation comes along, kids find them for themselves.“ Das ist mir passiert – ich habe sie gefunden und ich werde sie nicht mehr los.