Gelesen – 01/2017

Ich bin wieder da. Endlich. Ich bin wieder „im Netz“ und habe einige Posts im Kopf, die hier in den nächsten Tagen und Wochen erscheinen werden und sollen. Die internetlose Zeit (dazu vielleicht an anderer Stelle noch ausführlicher) war in mindestens einem Punkt aber auch für etwas gut: Ich habe nämlich verhältnismäßig viel gelesen und kann daher für den ersten Monat von 2017 hier zwei Bücher präsentieren.1701_img_0295_bearbLouise Penny: Bury your Dead.
Sphere

Dieses Buch stand schon länger in meinem Regal. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich es mit einigen anderen englischen Büchern mal zum Geburtstag von meiner Patentante bekommen. Jetzt war es aber endlich „dran“ und wie so oft habe ich mich auch dieses Mal fast geärgert, dass „Bury your Dead“ nicht schon früher gelesen habe.

Louise Penny ist eine kanadische Autorin, die mit ihrer Krimi-Reihe rund um Chief Inspector Armand Gamache berühmt geworden ist. „Bury your Dead“ ist der sechste Band in dieser Reihe, erschienen 2010, der aber auch wunderbar für sich allein stehend gelesen werden kann, wenn er auch nicht in sich abgeschlossen ist.

Um mal etwas mehr in’s Detail zu gehen: Armand Gamache ist, lose übersetzt, Chef der Kriminalpolizei der sûreté du Québec, ein erfahrener und in Québec und Umgebung bekannter Chief Inspector. Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und zu Beginn dieses Bandes ist er freigestellt, denn nach einem gefährlichen Einsatz mit einer Schießerei kurze Zeit vorher muss er sich psychisch und körperlich noch erholen. Er ist in Québec bei seinem früheren Vorgesetzten und Mentor zu Besuch, als im Keller der Bibliothek der Literary and Historical Society eine Leiche gefunden wird. Nicht irgendeine Leiche, sondern die des stadtbekannten Hobby-Archäologen Augustin Renaud, der schon halb Québec umgegraben hat auf der Suche nach der Grabstätte von Samuel de Champlain, dem Gründer Québecs.

Gamache wird von dem zuständigen Inspektor eingeladen, bei der Ermittlung zu helfen und auch das Leitungsgremium der „Lit and His“ bittet ihn darum. Gamache sagt zu und löst am Ende den Fall, der weit in die Vergangenheit hineinreicht. Die komplizierten und schwierigen Verwicklungen zwischen den frankophonen und den anglophonen Kanadiern kommen dabei auf den Tisch und der Leser bekommt quasi nebenbei einen tiefen und äußerst interessanten Einblick in die Geschichte und die Kultur von Québec und Kanada. In vielen Flashbacks und Erinnerungen von Gamache und anderen Protagonisten wird außerdem das ganze tragische Ausmaß des vorherigen Falls klar, dessentwegen Gamache sich aktuell nicht im regulären Dienst befindet.

Louise Penny erzählt auf vielschichtige und sehr fesselnde Weise. Dank der lebendigen Erzählung und der detaillierten Beschreibung von Orten und Landschaften (ähnlich wie in den Kommissar Dupin-Krimis von Jean-Luc Bannalec) kann man sich Québec im Winter trotz Sturm und Schnee und Eis nur als eine wunderschöne Stadt vorstellen. „Bury your Dead“ wird aus der Perspektive verschiedener Protagonisten erzählt – immer wieder nimmt der Leser die Sicht von Jean-Guy Langlois ein, der Gamache als Freund und Kollege nahe steht. Auch er war bei dem tragischen Einsatz dabei, auch er ist momentan freigestellt und befindet sich in „Bury your Dead“ in dem Dörfchen Three Pines, um einen weiteren, alten Fall auf Bitten von Gamache noch einmal aufzurollen. Besagter Fall ist das Thema des fünften Bandes. Auch wenn „Bury your Dead“ wunderbar alleinstehend gelesen werden kann, sollte man also eventuell „The Brutal Telling“ vorher lesen, denn die endgültige Auflösung erfolgt in „Bury your Dead“.

Ich bin auf jeden Fall „angefixt“ – begeistert von Kanada, von Québec und begeistert von der Erzählweise von Louise Penny. Die weiteren Fälle von Armand Gamache stehen jetzt auf jeden Fall auf der imaginären „to read“-Liste – wenn auch vielleicht doch lieber in chronologischer Reihenfolge. Der erste Band, „Still Life“, wurde im Übrigen auch verfilmt, mit Nathaniel Parker, bekannt aus den Inspector Lynley Mysteries, als Armand Gamache.

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William Boyd: Sweet Caress
Bloomsbury

Im Gegensatz zu dem ersten Buch hat „Sweet Caress“ nur eine sehr kurze Zeit in meinem Bücherregal gestanden. Zum letzten Geburtstag habe ich es geschenkt bekommen und weil sich der Text auf der Rückseite so interessant anhörte, wollte ich es am liebsten sofort lesen. Und ich kann sagen: Auch der Inhalt hat mich nicht enttäuscht.

William Boyd ist ein bekannter, mehrfach preisgekrönter Beststeller-Autor – von dem ich noch nie gehört hatte. Auch das wird sich ab jetzt ändern. „Sweet Caress“ ist sein neuester Roman. Darin erzählt er das Leben der Amory Clay – einer der „ersten weiblichen Kriegsfotografinnen“, wie es im rückseitigen Text heißt. Der Roman lässt Amory selbst zu Wort kommen: Sie erzählt ihr Leben, chronologisch, von der Kindheit bis zum Alter, in dem sie alleine in einem Cottage in Barrandale lebt. Zwischendurch wird die Erzählung von Tagebucheinträgen aus dem Jahr 1977 unterbrochen. Alle paar Seiten findet sich ein oder mehrere Fotos, die entweder Amory zeigen oder von ihr aufgenommen wurden: In der Regel extrem unscharfe, verschwommene, schwarz-weiß Bilder. Auf der letzten Seite des Buches findet sich eine Art Nachruf mit ihrem Geburts- und Todesdatum.

Das alles erweckt zunächst den Anschein, es handele sich bei Amory Clay um eine reale Person. Genau das ist der Clou an „Sweet Caress“ – oder der Clou von William Boyd. Denn „Sweet Caress“ ist nicht sein erster Roman, in dem er eine komplett fiktive Person als tatsächlich gelebt habend darstellt. Amory Clay gab es nie, die Fotos hat Boyd auf Flohmärkten zusammen gesucht. Als Leser kann man sich betrogen fühlen oder es für einen genialen Schachzug halten, denn im Roman wird das an keiner Stelle in keinster Weise deutlich. Es erklärt allerdings, warum die Erzählung an einigen Stellen doch blass bleibt, vor allem, sobald es um Details der Fotografie geht.

Dennoch ist „Sweet Caress“ ein besonderes Buch, denn es führt anhand des Lebens von Amory Clay durch beinahe ein ganzes Jahrhundert. Ihr Vater kehrt traumatisiert aus dem ersten Weltkrieg zurück und versucht eines Tages, sich und Amory umzubringen, indem er das Auto, in dem sie sitzen, in einen See lenkt. Als Assistentin ihres Onkels macht sie erste Fotografieerfahrungen auf Bällen und Gesellschaften in London. Um sich selbst einen Namen zu machen, geht sie nach Berlin, hält dort das Nachtleben im Rotlichtmilieu fest. Doch die Ausstellung ihrer Fotos in England löst einen Skandal aus. Sie geht nach Amerika, verliebt sich in einen verheirateten Mann und fotografiert für dessen Magazin. Zur Zeit der blackshirt riots ist sie wieder in London, bevor sie gegen Ende des zweiten Weltkriegs den Vormarsch der Alliierten in der Normandie als Kriegsfotografin begleitet. Dort lernt sie den schottischen Soldaten und ihren späteren Mann, Sholto Farr, kennen. Sie heiraten und führen einige Zeit ein beschauliches Leben auf dem Landsitz von Farr in Schottland. Amory bekommt Zwillinge, verliert ihren Mann durch einen Herzinfarkt und sucht dann, als die Kinder erwachsen sind, noch einmal eine neue Herausforderung. In den 60-er Jahren wird sie erneut zur Kriegsfotografin und geht nach Vietnam. Am Ende ihres Lebens schreibt sie Listen und lebt mit ihrem Hund in Barrandale, ihre Töchter in Brüssel und den USA verstreut.

Amory Clay, auch wenn sie nie gelebt hat, wird in „Sweet Caress“ lebendig. Ihre Ansichten und Meinungen sind oft zweifelhaft und auch widersprüchlich, aber sie ist immer sie selbst, ist immer (täuschend) echt. Und Boyd erzählt auf sehr spannende Weise aus dem Jahrhundert, aus der Sicht einer sehr unabhängigen, willensstarken Frau, die in ihrem Leben vieles gesehen und erlebt hat. Was macht es da schon, wenn die „Grenze zwischen Fakt und Fiktion verschwimmt“ (Daily Telegraph)? Wenn man dabei so gut unterhalten wird, ist das wirklich zweitrangig.