Gelesen – 10/2018

Nach den doch eher seichten Krimis um Madame le Commissaire brauchte ich jetzt mal wieder richtige Spannung und gut geschriebene Bücher. Wo geht man da hin? Für mich erfüllen die Inspector Lynley Mysteries von Elizabeth George alle Kriterien und Bedingungen, die ich an einen Krimi habe. Und schon seit langem hatte ich vor, die Reihe mal chronologisch von vorne aufzurollen. Also nichts wie los an die Bücher.


Elizabeth George: A Great Deliverance
Bantam Books

„A Great Deliverance“ ist der allererste Roman von und mit Inspector Thomas Lynley. Insgesamt 20 Romane gibt es mittlerweile, von denen ich eine gute Handvoll schon gelesen habe, immer mal wieder einen, gelegentlich auch mal zwei hintereinander, aber irgendwie habe ich immer quasi in der Mitte der Reihe angefangen. Das ist auch kein Problem, denn die Krimis sind natürlich alle in sich abgeschlossen und auch, wenn es natürlich immer wiederkehrende Personen gibt – Lynley und Havers und deren Vorgesetzte, weitere Kollegen, Familie und Freunde – kann man jedes Buch auch alleinstehend lesen und verstehen.

Trotzdem wollte ich jetzt einmal vorne beginnen. Und schnell habe ich zwei Dinge gemerkt: Erstens, dass sich – meiner Wahrnehmung nach – der Schreibstil von George über die Jahre deutlich verändert hat, ohne dass das jetzt in irgendeiner Weise eine Wertung beinhaltet. Wohl eher wäre es verwunderlich, wenn die Dame schon in den 80-er Jahren (denn „A Great Deliverance“ ist 1989 erstmalig erschienen) genauso geschrieben hätte wie heute. Und zweitens, dass es tatsächlich doch einige Informationen gibt, Hintergrundwissen über die Personen und ihre Beziehungen zueinander, die einem fehlen, wenn man diese ersten Bücher nicht kennt. Wie gesagt, man versteht die späteren Falle auch sonst, aber so einiges ergab für mich quasi im Nachhinein beim Lesen dieser ersten Romane (nochmal) einen (ganz anderen) Sinn.

Besonders spannend ist natürlich der Beginn der (Arbeits-)Beziehung zwischen Lynley und Barbara Havers. Lynley, Lord Asherton, dürfte der Inspector von Scotland Yard sein, den Havers am wenigsten ausstehen kann, denn er verkörpert alles, was sie nicht leiden kann. Noch dazu hat den Ruf eines notorischen Frauenhelden, der jede Woche mit einer anderen in’s Bett steigt. Lynley und Havers könnten kaum gegensätzlicher sein. Und doch wird sie ihm nun „zugeteilt“. Mit sämtlichen anderen Inspektoren war sie bereits „verpartnert“ worden, alle Teams sind in die Brüche gegangen, sie gilt quasi als nicht teamfähig. Es ist ihre letzte Chance, es „zu schaffen“, ihre letzte Chance zu beweisen, dass sie gut genug ist für’s CID und zu mehr berufen ist als zum uniformierten Polizeidienst. Sie glaubt, Lynley sei nur wegen seiner adligen Herkunft so weit gekommen, sie versteht nicht, warum er diesen Job überhaupt macht, als peer, und nicht zuletzt glaubt sie, sie müsse nun mit ihm zusammenarbeiten, weil sie vor ihm „sicher“ sei. Wenig attraktiv und geradezu kratzbürstig sei die Chance, dass Lynley auch mit ihr in’s Bett steige, eher gering.

Auf Lynleys Seite sieht das Ganze nicht viel anders aus. Auf Sympathie fußt diese Zusammenarbeit jedenfalls nicht. Dennoch fahren sie gemeinsam nach Yorkshire. In einem kleinen Dorf ist dort in einer Scheune ein Mann tot aufgefunden worden, umgebracht und geköpft durch einen Axthieb. Seine erwachsene Tochter saß neben ihm, die Axt im Schoß. Sie habe ihn umgebracht und bereue es nicht, sagte sie und sprach danach kein Wort mehr. Der Dorfpriester, der die beiden so vorgefunden und diese Worte gehört hatte, glaubt an ihre Unschuld, für den Rest der Dorfbewohner gilt sie als schuldig.

Lynley und Havers haben nicht nur diesen Fall aufzuklären, in dem jeder irgendetwas zu verbergen hat, sie müssen daneben auch die Grundlagen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit legen, was leichter gesagt ist als getan. Und dann tragen sie auch beide noch ihr eigenes Päckchen, von dem der andere (jedenfalls eine ganze Zeit lang) nichts weiß: Havers wohnt mit ihren kranken, alten Eltern zusammen, um die sie sich kümmern muss, und die den Tod ihres Bruders im Kindesalter genauso wenig verwunden haben wie sie selbst. Lynley muss mit seinen Gefühlen darüber, dass seine ehemalige Verlobte vor kurzem seinen besten Freund geheiratet hat, fertig werden – was nicht leichter wird dadurch, dass die beiden ihre Flitterwochen im Nachbardorf in Yorkshire verbringen.

Lynley und Havers sind wie Katz‘ und Maus – und auch wenn sie über die Dauer der Ermittlungen hinweg nicht die besten Freunde werden, entsteht doch trotz aller Zwischenfälle, allen Diskussionen und Streitereien so etwas wie ein gegenseitiges Verständnis füreinander und vor allem eine im Ergebnis fruchtbare Zusammenarbeit.


Elizabeth George: Payment in Blood
Bantam Books

Nicht nur nach Yorkshire, nein, dieses Mal verschlägt es Lynley und Havers in den ganz hohen Norden, nach Schottland. Eine Gruppe von Schauspielern, Direktoren und Produzenten hat sich dort in ein Herrenhaus zurückgezogen, um ein neues Stück vorzubereiten. Doch nachdem am ersten Abend alle Beteiligten einen ersten Blick auf das aufzuführende Stück geworfen haben, wird am nächsten Morgen die Autorin des Dramas tot in ihrem Bett aufgefunden.

Lynley wird aus seinem freien Wochenende gerufen und soll die Ermittlungen aufnehmen, obwohl die lokale Kriminalpolizei mit diesen schon längst begonnen hatte. Gegen seinen Willen wird ihm erneut Havers als Partnerin zugeteilt, er selbst besteht darauf, als Forensiker seinen besten Freund Simon St. James dabeizuhaben. Dieses ungleiche Trio macht sich also auf den Weg nach Schottland, wo die nächste Überraschung auf sie wartet. Denn Lynleys Freundin Lady Helen Clyde ist nicht nur Teil der illustren Gesellschaft, die einige hochgelobte West End Schauspieler und einen Adligen als Produzenten umfasst – ihr Raum liegt auch genau neben dem der Toten und die Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern scheint der Zugang des Täters gewesen zu sein.

Schnell wird zumindest dem Leser klar, wie gut und sinnvoll es ist, dass Havers dabei ist. Denn mit ihrem absoluten Nicht-Respekt gegenüber Angehörigen der höheren Klassen oder Adligen – in diesem Fall gegenüber dem Produzenten Lord Stinhurst – lässt sie nicht zu, dass Lynley sich „from peer to peer“ von Stinhurst einen Bären aufbinden lässt. Wie wichtig das auch für Lynley selbst werden wird, der nicht nur mit den Beziehungen, Rivalitäten und Geheimnissen zwischen und unter den Beteiligten und Zeugen, sondern auch mit seinen eigenen Gefühlen in Bezug auf Lady Helen zu kämpfen hat, wird erst gegen Ende des Romans deutlich.

Bis dahin gibt es, wie in jedem Krimi von Elizabeth George, unzählige mutmaßliche Verdächtige, viele verschiedene mögliche Motive, tausend verschiedene Szenarien, wie sich der Mord abgespielt haben könnte – und einen zweiten Toten.

Spannend fand ich es tatsächlich auch hier wieder, das Verhältnis von Lynley und Havers zu ergründen und vor allem, Barbara Havers überhaupt näher „kennenzulernen“. Sie kommt oft sehr spröde rüber, respektlos, gelegentlich auch ein wenig unsensibel , sie lässt häufig – bewusst und unbewusst – ihre „working class“-Herkunft raushängen und nicht nur ihre Kleidung, auch ihr Auftreten und ihr Verhalten ist häufig wenig feminin. Aber in diesem Buch, als man ihr förmlich zusehen kann dabei, wie sie versteht, dass seine adlige Herkunft für Lynley selbst auch eine Last sein kann, als sie Lynleys Gefühle früher zu erkennen und zu verstehen scheint als er, nicht zuletzt, als sie ihren eigenen Kragen und Job riskiert, um Lynley vor einem Fehler zu bewahren, erkennt man (oder habe ich erkannt) auch ihre ganzen positiven, liebenswerten Eigenschaften und vor allem ihre große Loyalität zu Lynley, trotz aller Unterschiede, die die beiden trennen.

Mit diesem Fall und in diesem Roman, so meine ich, wird der Grundstein gelegt für die weitere Zusammenarbeit und ich möchte gerne sagen, auch Freundschaft zwischen den Beiden. Und gerade dieses Zwischenmenschliche ist es, was mich an Elizabeth Georges Romanen fasziniert, was über einen „bloßen Krimi“ weit hinausgeht.